Anruf: „Lisa, ich habe eine Vision.“ „Hahaha“ – kernig-kehliges Lachen, sofort genüsslich. „Lass hören!“ „Also, ähm – sandfarbenes Leinen, vielleicht ein kleiner Einschlag nach Rosé ...“. „Ein Sommeranzug, nächste Woche bin ich in Hamburg, da kann ich ja mal schauen.“ Hamburg! Das mythische Hamburg der Stoffgrossisten! Der Herkunftsort jener verführerischen Auswahl an „Läppchen“, die samt und sonders sofort den Wunsch wecken, diese Qualität, dies Farbenspiel auf der Rolle, in breiter Bahn zu sehen, und möglichst gleich am Leib drapiert. Was da aus Hamburg oder sonst woher kommt: Es nimmt die Vision auf, die man hatte, es erfüllt sie, doch dank des zugleich klassischen wie leicht angeschrägten Blicks der Kernin deutet es sie um, korrigiert sie zu etwas Eigenerem, als man es sich überhaupt hätte vorstellen können. Und so geht es weiter – ob in Fragen des Schnitts, der Kragen- oder Taschenform, der Knöpfe oder des Futters, es ist ein Fest der Schönheit, des Entstehens – und immer die etwas bange Fra- ge, ob die Entscheidungen, die man trifft, die Wünsche, die man hat, vor ihren Augen bestehen! Der ganze Prozess: eine Reihe von Freuden und Überraschungen, und am Ende ein Gewand, das man nicht mehr ausziehen möchte – das man nicht auszuziehen bräuchte: Man könnte bequem drin schlafen. Es passt und passt sich an, es wächst mirakulös mit, wenn man 3, 4 Kilochen zu- nimmt, und schmiegt sich freundlich an, wenn, falls man sie wieder los wird. Ein Kleidungsstück von diskreter Originalität, das dank des klassischen Augenmaßes der Schöpferin in zehn Jahren so zeitlos sein wird wie jetzt und immer noch gleich besonders, und der Visionär von einst ist immer noch gleich beglückt. Hinrich Schmidt-Henkel A